Das Projekt fokussiert auf chilenische Frauen und Mädchen, die 1973 nach dem Militärputsch Pinochets aus Chile flohen und als politische Emigrantinnen in der DDR oder in der BRD eine Perspektive suchten. Auch wenn die Fluchtursachen klar zu sein scheinen, interessiert sich das Projekt erstens für die spezifischen Lebenssituationen der betreffenden Frauen in Chile und für ihre konkreten Fluchtursachen und -motive, fragt zweitens nach der Wahl des jeweiligen Ziellandes, den Erfahrungen auf der Flucht und beim Eintreffen in der DDR und der Bundesrepublik und erforscht drittens die Problematik ihrer Integration vor dem Hintergrund des Verhaltens der Aufnahmestaaten und -gesellschaften. Im Mittelpunkt steht dabei der deutsch-deutsche Vergleich aus alltagsgeschichtlicher Perspektive. Ein vierter Untersuchungspunkt besteht schließlich in der Analyse des Bleibens in Deutschland – sowohl vor dem Hintergrund der deutschen Wiedervereinigung als auch angesichts der Transformation Chiles zu einer Demokratie.

Mit den Methoden der Oral History wird Quellenmaterial durch Interviews mit Zeitzeuginnen zunächst erstellt und anschließend ausgewertet. Weitere primäre Quellen sind die privaten Archive von Aktivistinnen und deren Zeitschriften. Ein Fokus der Recherche liegt in der Rekonstruktion der Selbstorganisierung der geflüchteten Aktivistinnen sowohl in ihrem Herkunftsort als auch in ihrem Zielland bzw. dem Zielort. Dabei wird auch untersucht, welche Vorstellungen die Frauen hatten und wie sich diese auf ihre Organisierung und Erfahrungen auswirkten.

Forschungen, die speziell auf die Emanzipationsgeschichte geflüchteter Chileninnen fokussieren, existieren bisher nicht. Daher wird mit dieser „Geschichte von unten“ eine Forschungslücke geschlossen.

Migration wird hier nicht aus der Perspektive der Aufnahmegesellschaft – zum Beispiel in Kategorien wie „gescheiterte oder gelungene Integration“ – gesehen, sondern aus der Perspektive der migrierten Frauen als handlungsmächtige Akteurinnen. Die Verweigerung von vollständiger Integration in die Gesellschaft der DDR bzw. der BRD ist somit keine Unfähigkeit von Migrantinnen, die von der Aufnahmegesellschaft unterschwellig als „Opfer“, z. B. der Verhältnisse, gesehen werden, sondern aktiver Widerstand handlungsmächtiger Akteurinnen. Diese Sichtweise wird in den letzten Jahren von einigen Forschenden vertreten; nicht nur der Blickwinkel geht von den staatlichen Strukturen und der scheinbar gefestigten Aufnahmegesellschaft hin zu den Akteur:innen der Migration,1 sondern auch die theoretischen Überlegungen werden von Migrant*innen, aber auch Forschenden in nicht-europäischen Ländern erarbeitet. So kann die weiße europäische und US-amerikanische Sichtweise auf Widerstand von Frauen ergänzt, korrigiert, widerlegt werden.2 Das geschichtswissenschaftliche Projekt arbeitet interdisziplinär und bezieht auch Erkenntnisse aus der Soziologie, Philosophie und den Gender Studies mit ein.3

Und schließlich wird auch dem Fakt Rechnung getragen, dass chilenische Migrantinnen keine Anhängsel oder Opfer ihrer männlichen Familienangehörigen sind, die gegen ihren Willen ihre gewohnte Umgebung verlassen mussten, sondern auch in der familiären Beziehungskonstellation werden Frauen und Mädchen als handlungsmächtige Akteurinnen gesehen, die ihre Mittel und Wege finden, um auf ihre Art und Weise ihre Lebenswirklichkeiten gestalten und in die gesellschaftliche Umgebung eingreifen.

Wichtig für die Geschichte von unten, die den Akteurinnen Handlungsmacht zuschreibt und deren Praktiken des Widerstands untersucht, sind Kategorien von Identität, die aus einer intersektionalen Forschungsperspektive untersucht werden.

Jede Identität ist relational, also nur existent im Verhältnis zu anderen Identitäten und zur gesellschaftlichen Umgebung. Gleichzeitig wird Identität immer wieder neu hergestellt, durch die Individuen selbst, aber auch durch die Gesellschaft. Für die Analyse der Migration von Frauen ist ein weiterer Aspekt von Identität wichtig, und zwar der, dass angekommene Migrant:innen sich unter Umständen nach Jahren im Ankunftsland fühlen, als seien sie zwar nicht mehr zum Herkunftsland zugehörig, aber auch nicht zum Ankunftsland.

Die Konstruktion von Identität ist nicht ohne Herrschaftsverhältnisse zu denken. Die Zuschreibung bestimmter Identitätskategorien kann zur Diskriminierung oder Privilegierung der so bezeichneten Person führen, und da einer Person mehrere Identitäten zugeschrieben werden, treffen sich in ihr die Auswirkungen aus verschiedenen Identitätskonstruktionen. Um die Verwobenheit dieser Kategorien zu beschreiben und zu untersuchen, mit Ziel, sie abzuschaffen, fand die Juristin Kimberlé Crenshaw den Begriff der intersection, der Straßenkreuzung, an der verschiedene Diskriminierungen aufeinandertreffen und miteinander verwoben sind.4 Mit der Methode der Intersektionalität werden die Wechselwirkungen oder Verflechtungen zwischen den verschiedenen Achsen der Herrschaftskategorien untersucht und so die unterschiedliche Formen der Unterdrückung und des Widerstands dagegen sichtbar gemacht. Gerade dadurch eignet sich diese Methode für das Projekt, um geleisteten Widerstand bzw. das Widerstandspotential migrierter Frauen zu erforschen.

1Siehe Lydia Lierke, Massimo Perinelli (Hg.): Erinnern stören: der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive. Berlin 2020, und Massimo Perinelli: Migration und das Ende des bürgerlichen Subjekts. Transformationen des Subjekts vom Gastarbeiterregime bis zum Diskurs des Illegalen. In: Pascal Eitler, Jens Elberfeld (Hg.): Zeitgeschichte des Selbst. Therapeutisierung – Politisierung – Emotionalisierung. Bielefeld 2015, S. 195–215.

2Siehe Mariana Ortega: In-Between. Latina Feminist Phenomenology, Multiplicity, and the Self. New York 2016, und Andrea J. Pitts, Mariana Ortega, José Medina (Eds.): Theories of the Flesh. Latinx and Latin American Feminisms, Transformation and Resistance. Oxford 2020.

3Siehe Julia Reuter, Paula-Irene Villa (Hg.): Postkoloniale Soziologie: empirische Befunde, theoretische Anschlüsse, politische Intervention. Berlin 2010.

4Kimberlé Crenshaw: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, in: University of Chicago Legal Forum: Vol. 1989: Iss. 1, Article 8. https://chicagounbound.uchicago.edu/..., Abruf: 29.01.2022.