Das Projekt widmet sich einem Teilaspekt der Flucht- und Vertreibung-der Deutschen-Thematik. In der Forschung galt diese lange und gilt teils noch immer als mehrheitlich Frauen betreffendes Phänomen.1 Tatsächlich trifft dies jedoch nur auf den Abschnitt der Fluchten 1944/45 und die frühen Vertreibungen zu. Bereits zu Beginn des Jahres 1946 ist ein weitgehender Ausgleich der Geschlechterverhältnisse zu konstatieren, der für den gesamten, bis 1949 andauernden Vorgang der Vertreibungen anhielt. Die mediale und museale Repräsentation rückt Frauen dennoch deutlich in den Vordergrund und insbesondere die Fotografie hat sie zu Schlaglichtern von Flucht und Vertreibung gemacht. Dennoch fand in der Forschung bis heute eine Beschäftigung mit dem „spezifisch Weiblichen“ dieser Erfahrung kaum statt.2 Hier setzt das Projekt an und konzentriert die Untersuchung weiblicher Fluchterfahrung dabei auf den genannten Abschnitt der Flucht-und-Vertreibungsthematik, untersucht aber auch die Flucht von Frauen vor Bombenkrieg, sowie die spätere Fortsetzung von Fluchten in die westalliierten Besatzungszonen.

Das Projekt untersucht Umstände und Erfahrung der Flucht und fragt danach, auf welche Weise Frauen ihre traumatischen Erlebnisse in Selbstzeugnissen thematisierten und wie sie die Fluchterfahrungen in ihrer Erinnerung konturierten, was sie hervorhoben, veränderten, verschwiegen. Erweitert wird dieser die individuellen Erfahrungen betreffende Fragenkomplex zweitens durch die Gegenüberstellung mit kollektiven Deutungen und Sinngebungen des gesellschaftlichen Diskurses über Flucht und Vertreibung. Eigen- und Fremdwahrnehmung werden im dritten Untersuchungsteil anschließend analytisch aufeinander bezogen.

Für die Untersuchung der Fluchterfahrungen greift das Projekt aufgrund der Bedeutung von Emotionen als wichtiger Stabilisator der Erinnerung auf emotionsgeschichtliche Konzepte zurück und erweitert sie um einen gedächtnis- und psychoanalytischen Zugang zum historischen Bewusstsein für die betreffenden Erfahrungen, die es sowohl bei den Frauen als auch im Diskurs anhand der Kategorien Erfahrung, Verarbeitung und Deutung untersucht. Dazu werden für den ersten Teil der Untersuchung die Erfahrungsberichte der umfangreichen, in den fünfziger Jahren erstellten Quellensammlung „Ostdokumentation“ über den Flucht- und Vertreibungsvorgang ausgewertet, ebenso Selbstzeugnisse und autobiographische Schriften untersucht. Im zweiten Teil der Untersuchung wird durch das in einer Dokumentanalyse erhobenen Quellenmaterial der Diskus qualitativ und hermeneutisch ausgewertet. Ziel der Untersuchung ist, es herauszuarbeiten, welche historische Sinngebung für die Gegenstände von Flucht und Vertreibung, Bombenkrieg und sexueller Kriegsgewalt individuell und kollektiv erfolgte und auf welche Weise dies geschah.

1Stephan Scholz, Zwischen Viktimisierung und Heroisierung. Geschlechterkonstruktionen im deutschen Vertreibungsdiskurs, in: K. Erik Franzen / Martin Schulze Wessel (Hrsg.), Opfernarrative. Konkurrenzen und Deutungskämpfe in Deutschland und im östlichen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, München 2012, S. 69–84, hier S. 70, Christian König, Flüchtlinge und Vertriebene in der DDR-Aufbaugeneration. Sozial- und biographiegeschichtliche Studien, Leipzig, 2014, S. 32.

2Katharina Aubele, Vertriebene Frauen in der Bundesrepublik Deutschland. Engagement in Kirchen, Verbänden und Parteien 1945–1970, München 2018, S. 4–9.