Helene Weigel hat laut Einschätzung von Freunden nach folgendem Prinzip gelebt: „Gegen die Infamitäten des Lebens sind die besten Waffen: Tapferkeit, Eigensinn und Geduld. Die Tapferkeit stärkt. Der Eigensinn macht Spaß. Und die Geduld gibt Ruhe.“1 Über die zäh wie zart charakterisierte Helene Weigel wurde viel geschrieben, analysiert und gemutmaßt. So war sie laut der Publizistin Carola Stern eine Frau, deren Hilfsbereitschaft bis zum Dienen ging und die dabei doch ihre Eigenständigkeit bewahrte, ja, sie vielleicht erst so gewann. Sie sei selbständig, duldsam und demütig zugleich gewesen und habe sowohl Tradition als auch moderne weibliche Emanzipation verkörpert.2 Doch was versteht man unter moderner weiblicher Emanzipation? Steht sie nicht diametral entgegengesetzt zum (Weiter-)Leben von und zum Festhalten an Traditionen?

In meinem Einzelprojekt folge ich der Begriffsdefinition von Ulla Bock, einer Soziologin und Geschlechterforscherin. Für sie ist Emanzipation „keine definierbare Größe, sondern Leitmotiv eines permanenten engagierten Lebens, in dem das Bemühen um die Loslösung aus unwürdigen Zwängen und Abhängigkeiten im Mittelpunkt steht. Emanzipation kann somit für jede Frau ein anderes Gesicht, eine jeweils spezifische Akzentuierung gewinnen und kann für ein und dieselbe Frau sich heute in etwas anderem erweisen als morgen."3 Emanzipation ist demnach ein immer wieder neu zu hinterfragender, neu zu bestimmender Prozess.4 Dabei versteht man Emanzipation als Orientierung für individuelle Lebensentwürfe mit dem Ziel der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, begreift sie dabei aber auch in ihrer politisch-strukturellen Dimension und bezeichnet somit auch einen diesem Ziel entsprechenden Gesellschafts- und Politikentwurf.5 Wie verbindet sich diese Begriffsdefinition mit der Migration und dem (Weiter-)Leben von Traditionen? Dieser Hauptfragestellung möchte ich mit meiner Untersuchung zu geflüchteten jüdischen Akademiker:innen und Künstler:innen nachgehen.

Viele deutsche Emigrant:innen hatten nach der Flucht erst einmal nichts, sie waren Niemand, Menschen ohne Schutz, „hautlos“ – wie Christa Wolf in ihrem Vorwort zu Charlotte Wolffs Autobiografie schrieb –, allen Widrigkeiten des Emigrant:innendaseins ausgesetzt.6 Sie waren gezwungen, sich ein neues Leben zu organisieren und eine neue Identität zu entwickeln,7 ohne sich vollkommen anzupassen oder ihre Herkunft, Kultur und Traditionen zu verleugnen. Fluchten betreffen alles, woraus Menschen ihre Identitäten ableiten,8 ihre Werte, Gefühle, Vorstellungen, ihren Status, ihr gesellschaftliches Handeln – entsprechend den jeweiligen Lebensbedingungen und Machtverhältnissen, in die sie eingebunden sind.9 Für geflüchtete Akademiker:innen und Künstler:innen verband sich in den 1930er- und 1940er-Jahren mit der Identitätsfindung häufig, sich selbstbestimmt weiterhin beruflich und sich möglichst im erlernten Beruf zu betätigen. Diese Geflüchteten waren mit ihren Lebensplänen und deren Umsetzung stark geprägt von der Weimarer Moderne: Der Versuch, Mutterschaft mit bezahlter beruflicher Tätigkeit zu kombinieren und dabei beides engagiert zu bewältigen, war kennzeichnend für die Aufbrüche in der Weimarer Gesellschaft und das „moderne“ Selbstverständnis der Republik.10

Darüber hinaus konnten Handlungsmuster, die im Herkunftsland als eigensinnig, revolutionär und provokativ gegolten hatten, im Exil zum Überleben, zu Selbstbestimmtheit und Durchhaltevermögen beitragen.11 Doch konnte die Emigration Frauen auch den Bruch mit tradierten Rollenbildern bringen, unabhängig davon, ob sie dies positiv oder negativ erlebten.12

Zu meinem geplanten Untersuchungssample von ca. 150 Frauen zählen neben der Schauspielerin und Intendantin Helene Weigel u. a. die Politikwissenschaftlerin Hannah Arendt, die Historikerinnen Gerda Lerner und Selma Stern-Täubler, die Fotografinnen Ella Auerbach und Grete Stern, die Schriftstellerin und Publizistin Hilde Spiel, die Juristin Marie Munk, die Ärztinnen Hertha Nathorff und Margaret Rothenberger, die Schriftstellerinnen Anna Seghers und Veza Canetti, die Sängerin Paula Lindberg-Salomon, ihre Stieftochter, die Malerin Charlotte Salomon und die Schauspielerinnen Luise Rainer und Hedy Lamarr.

Im Ergebnis der Untersuchung soll eine sozialgeschichtliche Studie in Form einer Monografie vorliegen.

1Siegfried Unseld, Vorwort. In: Werner Hecht, Helene Weigel. Eine große Frau des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2000, S. 7 f., hier S. 7.

2Vgl. Carola Stern, Männer lieben anders. Helene Weigel und Bertolt Brecht, Berlin 2000, S. 27.

3Ulla Bock, Androgynie und Feminismus, Weinheim 1988, S. 85.

4Vgl. Carmen Birkle/Ramona Kahl/Gundula Ludwig/Susanne Maurer, Emanzipation und feministische Politiken: Verwicklungen, Verwandlungen, Verwerfungen. Eine Einleitung. In: Diess. (Hg.), Emanzipation und feministische Politiken. Verwicklungen, Verwerfungen, Verwandlungen, Sulzbach 2012, S. 7–23, hier 13.

5Vgl. ebd., S. 19.

6Vgl. Christa Wolf über Charlotte Wolff. In: Charlotte Wolff, Augenblicke ändern uns mehr als die Zeit. Autobiographie, Pfungstadt 2003, unpag.

7Vgl. Elisabeth Rohr/Mechthild M. Jansen, Politische Verfolgung von Frauen. In: Diess. (Hg.), Grenzgängerinnen. Frauen auf der Flucht, im Exil und in der Migration, Gießen 2002, S. 9–42, hier 11.

8Vgl. Bettina Sluzalek, Das zweite Exil, Die Reintegration chilenischer Rückkehrer im Zuge der Demokratisierung in Chile unter besonderer Berücksichtigung der Frauen, Wiesbaden 1999, S. 96.

9Vgl. Graciela Concha Pineda, Das chilenische Exil. Veränderungen der Rollen und der Identität der Frauen. Berlin 1986, S. 13.

10Vgl. Atina Grossmann, ‚Neue Frauen‘ im Exil. Deutsche Ärztinnen und die Emigration. In: Kirsten Heinsohn/Stefanie Schüler-Springorum (Hg.), Deutsch-jüdische Geschichte als Geschlechtergeschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 133–156, hier 137 f.

11Vgl. Andreas Lixl-Purcell (Hg.), Erinnerungen deutsch-jüdischer Frauen 1900–1990, Leipzig 1992, S. 23f.

12Vgl. Edda Ziegler, Die verbrannten Dichterinnen, Düsseldorf 2007, S. 79.