Überblick

Fest steht, dass es erhebliche geschlechtsspezifische Unterschiede in Bezug auf Ursachen und Bedingungen der Migration sowie deren Möglichkeiten und Anerkennung auf Asyl gab und gibt.1 Wird die Kategorie Geschlecht in der Forschung nicht thematisiert, werden wichtige Faktoren für das Verständnis von Motiven für Migration sowie der Lebensbedingungen von Frauen in den Ankunftsländern ignoriert.2 Eine Migrationsforschung, die konsequent einem Gender-Ansatz folgt, setzt Frauen und Männer zueinander und zu den gesellschaftlichen Gegebenheiten in Beziehung.3 Forschungen zum Thema „Migration und Geschlecht“ zeigen, dass Frauen spezifische Erfahrungen, Handlungsspielräume, Integrationsvorteile und -hindernisse erlebten, die eng mit Geschlechterrollen und -erwartungen verknüpft waren.4 Frauen gestalten zudem den Verlauf und die Form der Migration wesentlich mit – mehr als bisher angenommen.

Mittlerweile gibt es zahlreiche sozialwissenschaftliche Publikationen zu Einzelthemen über die Migration, einschließlich der Flucht von Frauen. In der historischen Frauen- und Geschlechterforschung sollte der Situation und den Erfahrungen dieser Frauen jedoch nach wie vor mehr Beachtung geschenkt werden. In der Migrationsforschung manifestierte sich zunehmend ein heterogenes Bild von Migrantinnen, die unterschiedliche Bildungsvoraussetzungen, Lebenserfahrungen, Migrationsmotive und -hintergründe mitbrachten bzw. -bringen. Migrationsdefizite aber auch -erfolge werden detailliert benannt. Eine umfassende interdisziplinäre Analyse mit komplexen Fragestellungen zu Frauen ausgewählter und unterschiedlicher Migrationsbewegungen aus, nach und innerhalb von Deutschland über einen längeren historischen Zeitraum hinweg, gegliedert in mehrere Teilprojekte – wie sie hier geplant ist – existiert jedoch nicht.

Die Arbeit an dem seit 2020 existierenden Forschungsprojekt zum Thema „Aus, nach und innerhalb von Deutschland migrierte Frauen (1918–2018) – interdisziplinäre Analysen“ wurde 2021/22 fortgesetzt. Übergeordnete Forschungsfragen und Begriffsdefinitionen (Emanzipation, Emotion, Erfahrung, Wissen, Intersektionalität, [Arbeits-]Migration) zur Thematik des umfangreichen Projekts wurden von einer 2021 gebildeten Forscher:innengruppe diskutiert und konkretisiert.

Seit 2022 setzt sich das Projekt aus sechs Einzelprojekten zusammen, zwei mehr als im Vorjahr. Die Forscher:innengruppe trifft sich regelmäßig und diskutiert gemeinsam mit Prof. Susanne Schötz (Professur zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte am Institut für Geschichte der TU Dresden), einer ausgewiesenen Expertin zu Fragen der Frauen- und Geschlechterforschung, über den Stand und den Inhalt der Arbeiten. Mittlerweile ist die Forscher:innengruppe interdisziplinär aufgestellt.

Die Einzelprojekte werden sehr spezielle Fragen zu ihren jeweiligen Untersuchungszeiträumen und -gegenständen mit den vielfältigsten Methoden und Quellen beantworten. Zum Abschluss des Gesamtprojektes soll versucht werden, Vergleiche zu ziehen, Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Besonderheiten fest- und darzustellen. Dabei wird der Frage nachgegangen, was Frauen verschiedener Migrationsbewegungen gemeinsam ist und was sie unterscheidet. Zu den Einzelprojekten zählen:

  1. Weibliche Emanzipation, Migration und Traditionen. Das Beispiel geflüchteter jüdischer Akademiker:innen und Künstler:innen (1933–1945) (Dr. Francesca Weil), mehr 
  2. Geflüchtete Frauen aus den deutschen Ostgebieten 1944/45. Erfahrung, Verarbeitung und Deutung im Kommunikationsprozess zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis (Sophie Seeliger, M. A.), mehr 
  3. Krankenpfleger:innen aus dem globalen Süden: Eine geschlechtergeschichtliche Untersuchung von Pflegenden mit Migrationserfahrung in der Bundesrepublik und in der DDR (Dr. Fruzsina Müller), mehr 
  4. Chilenische Migrantinnen in Deutschland 1973 bis 2000 (Vera Bianchi,M. A., mehr 
  5. Das vielschichtige Selbst der Frauenfiguren: Individualität in der Kurzgeschichte afghanischer Schriftstellerinnen nach 1978 (Anita Karimi,M. A.), mehr 
  6. Akkulturationsprozesse von nach Deutschland geflüchteten afghanischen Frauen 1980–2018 (Dr. Fatemeh Hippler), mehr 
  7. Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung nach Deutschland als Migrationserfahrung von Frauen und Mädchen (Anne S. Respondek,M. A.), mehr 
  8. Migration of Indian Care Workers in the 1960s and 1970s. Lived Experiences of Malayalee Women Nurses in West Germany (Dr. Suramya Thekke Kalathil). mehr 

Damit decken die Einzelprojekte den gesamten Untersuchungszeitraum von 1918 bis 2018 ab.

Für fünf Projekte wurde damit begonnen, Antragstexte zur Förderung durch die DFG und die Gerda Henkel-Stiftung zu verfassen; das sechste wird aus Haushaltsmitteln des HAIT finanziert. Drei Forscher:innen (Fruzsina Müller, Fatemeh Hippler und Anita Karimi) wurden 2021/22 durch eine Anschubfinanzierung des HAIT gefördert, Vera Bianchi 2022 ebenso an der Professur zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte am Institut für Geschichte bei Prof. Susanne Schötz.

Treffen der Forscher:innengruppe fanden ebenfalls mit dem KompetenzwerkD, angesiedelt an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, statt. In diesem Kontext, d. h. dem DIKUSA-Projekt (mehr ), ist seit Februar 2022 ein Mitarbeiter mit umfassenden IT-Kenntnissen, Dr. Jochen Tiepmar, am HAIT angestellt. Schwerpunkt seiner Arbeit ist der Aufbau einer digitalen Wissensbasis mit Fokus auf georeferenzierten Daten und deren Visualisierung, die im Rahmen eines Verbundvorhabens (2022–2025) mit fünf anderen thematischen Projekten weiterer sächsischer Institute ineinander verzahnt werden. In diesem Zusammenhang soll eine gemeinsame und nachhaltige technische Basis zur Datenerfassung sowie eine Plattform zur Präsentation der Daten in Kooperation mit der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) entstehen. Für die sechs oben genannten Projekte sollen – wenn möglich (vermutlich bei den Projekten von Sophie Seeliger, Fatemeh Hippler und Francesca Weil) – die Bewegungen von Frauen unterschiedlicher Migrations- und Fluchtkontexte erfasst, visualisiert und ausgewertet werden. Mittels erstellter interaktiver Karten können nicht nur Veränderungen in den Bewegungen erlebbar gemacht, sondern auch Trends erkannt sowie beispielsweise Clusterbildungen als neue Erkenntnisse durch die digitalen Methodiken gewonnen werden.

Mit diesem Projekt wurde seit Juli 2022 außerdem eine Wissenschaftliche Hilfskraft, Chris Weinhold, finanziert. Er hat bereits über 150 Daten zu geflüchteten jüdischen Frauen – entnommen aus online-Datenbanken – in die vom KompetenzwerkD erstellte Datenbank eingegeben. Seit November 2022 wurden diese Daten ausgewertet; im Januar 2023 begann Nicole Husemann im Projekt mit der Arbeit an der Visualisierung der Daten in interaktiven Karten. Seit Juli 2023 gibt Chris Weinhold, jetzt als Wissenschaftlicher Mitarbeiter, weitere Daten ein. In diesem Kontext ist nach deren Erkenntnisgewinn sowohl für das Projekt überhaupt als auch für die Einzelprojekte zu fragen.

Neben der oben erwähnten Kooperation mit der TU Dresden (Prof. Susanne Schötz) bahnen sich weitere Kooperationen mit der Universität Marburg (Prof. Bianca Devos), der Universität Duisburg und der Universität Leipzig (Prof. Maren Möhring) an.

1Vgl. Sabine Herold, Wenn Frauen flüchten. Formen geschlechtsspezifischer Verfolgung und die Situation von asylsuchenden Frauen in Deutschland, Aachen 2005, S. 8.

2Vgl. Martina Schöttes/Monika Schukar (Hg.), Vorwort. In: Frauen auf der Flucht, Band 1, Leben unter politischen Gewaltverhältnissen Chile, Eritrea, Iran, Libanon, Sri Lanka, Berlin 1994, S. 7 f., hier 7.

3Vgl. Martina Schöttes/Annette Treibel, Frauen – Flucht – Migration. Wanderungsmotive von Frauen und Aufnahmesituationen in Deutschland. In: Ludger Pries (Hg.), Transnationale Migration, Baden-Baden 1997, S. 85–117, hier 85.

4Vgl. Edeltraud Aubele/Sabine Liebig u. a., Einleitung. In: Diess. (Hg.), Femina Migrans. Frauen in Migrationsprozessen (18.–20. Jahrhundert), Sulzbach 2011, S. 9–17, hier 16.

Einzelprojekte

Kachel Titelbild Einzelprojekt 4

Bild: Archiv Lateinamerika Nachrichten, Berlin. Digitalisiert: HKS 13 (Hg.): vorwärts bis zum nieder mit. 30 Jahre Plakate unkontrollierter Bewegungen. Assoziation A, Berlin 2002, CD-ROM und http://plakat.nadir.org/

Kachel Titelbild Einzelprojekt 7

Bild: @Archiv Jochen Tiepmar

DIKUSA – Semporalgraphen

Dr. Jochen Tiepmar
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Kachel Titelbild Einzelprojekt 9

Bild: All image rights reserved by Masala Movement e.V. (Germany). The pictures were kindly provided by people from the community. Image selection by Manoj Kurian Kallupurackal (manoj.eu)

Beteiligte Institutionen

Diese Maßnahme wird mitfinanziert mit Steuermittel auf Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushalts.